Viele Organisationen versuchen den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt mit Achtsamkeits-basierten Interventionen zu begegnen. Es werden Coachings oder Trainings angeboten und Mitarbeiter werden in Achtsamkeitstechniken geschult. Dabei steht im Vordergrund, das Wohlbefinden und die Resilienz der Mitarbeiter zu erhöhen und den (empfundenen) Stress zu reduzieren (Dinesh et al., 2022).
Hintergrund
Donald et al. (2020) beschreiben in einer Meta-Analyse, wie Achtsamkeit mit den verschiedenen Arten der Motivation zusammenhängt. Die Autoren fanden 89 Studien mit mehr als 25.000 Teilnehmern, in denen Achtsamkeits- und Motivationswerte untersucht wurden. Im Kern konnte gezeigt werden, dass Achtsamkeit mit autonomen (selbstbestimmten) Formen der Motivation einhergeht und nicht oder negativ mit externer Regulierung (Fremdbestimmung) und Amotivation zusammenhängt.
Das bedeutet nicht, dass Achtsamkeit und Autonomie das Gleiche sind oder dass Achtsamkeit automatisch zu Autonomieerleben führt. Vielmehr zeigt es, dass Achtsamkeit Autonomieerleben ermöglichen kann.
Achtsamkeit ist kein motivierender Zustand – sie ist ein beobachtender, rezeptiver Zustand. Während Motivation Energie und Antrieb für das Verhalten liefert, hilft Achtsamkeit dem Menschen, sich seiner (inneren und äußeren) Erfahrungen bewusster zu werden und diese besser zu verarbeiten. Achtsames Bewusstsein bietet somit einen fruchtbaren Boden für Autonomie indem es Selbsterkenntnisse liefert, die selbstbestimmte Entscheidungsfindung ermöglichen.
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit kann als das offene und empfängliche Bewusstsein dessen, was sowohl im Menschen selbst als auch in seiner Umgebung geschieht, verstanden werden. Achtsamkeit wird dabei im Allgemeinen als ein empfänglicher Zustand angesehen, in dem man ohne Urteil beobachtet, was geschieht, ohne spezifische Ziele oder Vorgaben zu verfolgen. Mit größerer Achtsamkeit werden sich Menschen ihrer inneren Phänomene wie Affekte, Emotionen, Impulse und Bedürfnisse sowie äußerer Bedingungen wie externe Anreize, Verführungen oder Druck bewusster. Damit sind sie mit steigender Achtsamkeit besser in der Lage, ihre Präferenzen, Entscheidungen und Handlungen zu reflektieren. Dieses Reflektieren und Verstehen ermöglicht einen Abgleich von persönlichen Zielen, Werten und Handlungen (Ryan & Deci, 2017).
Welche Arten von Motivation gibt es und was unterscheidet sie?
Selbstbestimmte Motivation liegt vor, wenn das Engagement in Aktivitäten aus dem eigenen Interesse an oder der Wertschätzung für diese Aktivität resultiert (Ryan & Deci, 2017). Wenn Menschen selbstbestimmt agieren, handeln sie freiwillig und stehen voll hinter ihrem Agieren. Selbstbestimmte Motivation wurde in verschiedenen Kontexten, Kulturen und Altersgruppen untersucht und führte stets zu Wohlbefinden, Vitalität und Potenzialentfaltung (Ryan & Deci, 2017).
Fremdbestimmte Motivationen resultieren aus internem Druck oder äußeren Zwängen. Sie vermindern das Wohlbefinden und die Funktionsfähigkeit der Betroffenen, da sie Stress, Angstzuständen, Depressionen, Wut und Feindseligkeit (Ryan & Deci, 2017), Müdigkeit (Kazén et al., 2015), Impulsivität (Muraven, Gagné, & Rosman, 2008) und schlechtere kognitive Leistung (Kazén et al., 2015) hervorrufen.
Wie hängen Achtsamkeit und Motivation zusammen?
Es gibt Hinweise darauf, dass achtsame Menschen eher selbstbestimmt motiviert sein können. Beispielsweise konnte in Experience Sampling Studies gezeigt werden, dass Achtsamkeit mit mehr Autonomieerleben einhergeht (Brown & Ryan, 2003). Achtsamkeit könnte dazu führen, dass Menschen danach streben, ihr Handeln und ihre Werte in Einklang zu bringen und sich auf Aktivitäten fokussieren, die ihnen wichtig sind (Levesque & Brown, 2007).
Außerdem kann Achtsamkeit zu mehr wahrgenommener intrinsischer Motivation (eine Art der selbstbestimmten Motivationen) bei einigen Aufgaben führen (z. B. Brown, Goodman, Ryan, & Anālayo, 2016). Das heißt, durch Achtsamkeit wird es Menschen häufiger bewusst, dass sie selbstbestimmt handeln.
Achtsamkeit steigert jedoch nicht alle Formen der Motivation und kann sogar bestimmte Arten von Motivation reduzieren (z. B. Hafenbrack & Vohs, 2018), insbesondere solche, die nicht durch Selbstbestimmung gekennzeichnet sind (Weinstein, Brown, & Ryan, 2009). Zum Beispiel kann Achtsamkeit das Streben nach extrinsischen Belohnungen und das Reagieren auf äußere Anreizen reduzieren (Roche & Haar, 2013). Studienergebnisse zeigen, dass achtsamere Menschen seltener von fremdbestimmten Motiven kontrolliert werden, wie z.B. extrinsischer finanzieller Belohnung, sozialer Anerkennung oder subtilen Formen von Zwang wie Schuld, Scham oder sozialem Druck. Und Personen, die ein Achtsamkeitstraining durchlaufen haben, zeigten eine geringere neuronale Reaktion auf monetäre Belohnungen (Kirk, Brown, & Downar, 2014).Dies wirft die Frage auf, ob Achtsamkeitsinterventionen bei Personen, die in Umgebungen leben oder arbeiten, die relativ fremdbestimmt sind, dazu führen könnten, dass sie nach einer Achtsamkeitsintervention weniger motiviert oder gar unmotiviert sind. Daher ist das motivationale Umfeld, in dem Achtsamkeitsinterventionen implementiert werden, von entscheidender Bedeutung und muss bei der Gestaltung dieser Interventionen sorgfältig berücksichtigt werden (Ryan et al., 2021).
Wie wirkt Achtsamkeit?
Achtsamkeit erzeugt keine Motivation. Achtsamkeit ist ein Zustand der offenen, nicht-defensive Bewusstheit. Dadurch ermöglicht Achtsamkeit die eigenen Motive, Ziele und wirkenden Reize beispielsweise bezüglich einer betrachteten Handlung zu reflektieren und einzuordnen. Durch diese Reflektion und Einordnung können Handlungen und Handlungsalternativen besser hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit persönlichen Wertvorstellungen abgeglichen werden. Achtsamkeit erzeugt also erst einmal Klarheit darüber, warum jemand eine bestimmte Handlung ausübt oder ausüben möchte. Zum Beispiel könnte man achtsam beobachten, wie Gruppenzwang oder Schuldgefühle dazu führen, dass man Verhaltensweisen zeigt, die persönlichen Werten widersprechen. Diese Beobachtung des inneren Konflikts wird dann die Entscheidung beeinflussen, ob man dem Gruppenzwang oder den Schuldgefühlen folgen will.
Es gibt substanzielle Belege dafür, dass mehr Achtsamkeit mit vielen positive Effekten wie einem größeren subjektiven Wohlbefinden (Christie, Atkins & Donald, 2017), Arbeitsengagement und -leistung (Reb, Narayan & Chaturvedi, 2012), Gedächtnisfunktion (Brown et al., 2016) und reduzierten Drogenmissbrauch (Roos, Pearson & Brown, 2015) verbunden ist. Es gibt jedoch wenig Klarheit darüber, wie diese positiven Effekte entstehen – das heißt, wie Achtsamkeit zu mehr Wohlbefinden etc. führt. Auch wenn es keine eindeutigen Studienergebnisse dazu gibt, könnte es sein, dass die allgemein gefundenen positiven Effekte von Achtsamkeit insbesondere über das Autonomieerleben bzw. die wahrgenommene Selbstbestimmung moderiert werden (Donald et al., 2020). Die Annahme wäre, dass eine größere Autonomie eine größere Integration widerspiegelt, so dass sich die Menschen authentischer fühlen und ihre Handlungen selbst bestimmen oder zumindest mit ihnen einverstanden sind. Achtsamkeit ermöglicht dabei die emotionale und kognitive Verarbeitung, die für eine solche Integration erforderlich ist (Roth et al., 2019). Die so geförderte autonome Regulierung des Verhaltens erzeugt ein Gefühl der Kongruenz, reduziert innere Konflikten, führt zu mehr Zufriedenheit und weniger Stress (Shannon et al., 2020). Dies passt auch zu Erkenntnissen, dass achtsamere Menschen nicht nur effektiver mit Stress umgehen, dem sie ausgesetzt sind, sondern auch dazu neigen, weniger Stress zu erleiden, vermutlich dadurch, dass sie Entscheidungen treffen, die mit ihren Werten und Vorstellungen im Einklang sind (Weinstein et al., 2009). Vor diesem Hintergrund scheinen Interventionen wie das Üben von Achtsamkeitspraktiken grundsätzlich geeignet, um das Autonomieerleben und die Integration zu verbessern, was dann wiederum weitere positive Effekte zur Folge hat.
Achtsamkeit hat aber nicht nur diese positiven Auswirkungen auf das Autonomieerleben, sondern auch ihre eigenen direkten Auswirkungen auf das Wohlbefinden, z. B. durch ihre unmittelbaren Auswirkungen auf die Stimmung, die physiologische Erregung, Sorgen und andere Prozesse (Donald et al., 2016; Schultz & Ryan, 2019)
Fazit
Achtsamkeit erzeugt keine Motivation, schafft aber Klarheit über die wirkenden Motivationen.
Sie sorgt dafür, dass Menschen häufiger autonome und selbstbestimmte Motivation erleben. Das liegt vermutlich zum einen daran, dass sie bewusster wahrnehmen, welche integrierten Motive oder intrinsische Motivation ihr Handeln treiben und zum anderen daran, dass sie sich häufiger dagegen entscheiden, fremdbestimmten Reizen zu folgen, die nicht mit ihren persönlichen Werten in Einklang zu bringen sind.
Folglich sorgt Achtsamkeit auch dafür, dass Menschen tendenziell weniger durch externe Regulation (Strafe/Belohnung) und introjizierte Regulation (status-, ego-, scham- oder schuldgetriebene Motivation) angetrieben werden. Diese Regulationsformen scheinen bei eher achtsamen Menschen weniger zu wirken.
Mit zunehmender Achtsamkeit der Mitarbeiter in Organisationen nimmt auch die Bedeutung der Möglichkeit autonomer Motivation zu. Insbesondere Organisationen die zu wesentlichen Teilen auf externe und introjizierte Regulation (finanziell-, status-, ego-, scham- oder schuldgetriebene Motivation) setzen, sollten Alternativen finden. Insbesondere wenn Organisationen selbst ihren Mitarbeitern Schulungen und Trainings zu Achtsamkeit anbieten, sollte sichergestellt werden, dass der existierende motivationale Rahmen auch noch zu achtsameren Mitarbeitern passt.
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